Kommentar: Gedanken zum „ Coronexit“

„Ich sage es Ihnen mal ganz brutal, wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären, aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Diese Aussage von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer machte mich sprachlos. In seinen späteren Erklärungsversuchen hierzu, verdeutlichte er, dass „nur“ die Risikogruppe weiter stärker isoliert werden soll, damit die jungen Gesunden wieder ein weitgehend normales Leben führen können…
Ich bin 39 Jahre jung, chronisch krank und immunsupprimiert und gehöre in dieser Zeit der Corona-Pandemie also ebenfalls zur Risikogruppe, wie viele andere junge Menschen mit Vorerkrankungen und alle ab etwa dem 65. Lebensjahr.
Die immer wieder laut werdenden Diskussionen über eine längerfristige Separierung der Betroffenen verärgern mich. Welche Konsequenzen hat eine andauernde Isolation vermutlich für diese Manschen? Wenn persönliche Besuche, die für viele Bewohner von Pflegeeinrichtungen das Tages- oder Wochenhighlight bedeuten, weiter verboten würden? Und die Vorerkrankten, die vermutlich schon vorher mit Einschränkungen leben mussten, könnten also auch weiter noch stärker eingeschränkt werden?
Unser Grundgesetz, Art. 1, garantiert unserer Bevölkerung die unantastbare Menschenwürde. Das gilt für alle, eben auch für die Älteren und Vorerkrankten in unserer Gesellschaft. Wir legen großen Wert darauf, dass das Menschenleben in Deutschland nicht quantifizierbar ist. Meine Überzeugung ist, dies muss so bleiben!
Bund und Länder arbeiten an einer Strategie aus dem Lockdown. Dass schnell ein Plan her muss, ist aus wirtschaftlicher Sicht absolut nachvollziehbar. Ob die aktuelle Vorgehensweise aber der richtige Weg ist oder nicht, wird sich leider erst in der Zukunft zeigen. Welche beschlossenen Lockerungen angemessen sind, muss wohl jeder Einzelne – besonders die Menschen der Risikogruppe – für sich selbst entscheiden. Breitere Testungen, funktionierende Antikörpertests, Handy-Apps sowie die bereits bestehende Mund-Nasen-Schutz-Pflicht sind wahrscheinlich gute Mittel mit möglichst geringer gesundheitlicher und wirtschaftlicher Not bis zum Impfstoff durch die Pandemie zu kommen. Die schlechteste Variante jedoch ist sicher die Ausgrenzung eines großen Teils unserer Gesellschaft.

Text: Bettina Landwehr